Diesseits der Rampe und Grenzen

MZ 24.04.2014

Musik, die Mauern und Grenzen übertönt, überschreitet, den Beton in Israel, die Grenze auf Zypern, die Ausweglosigkeit syrischer Flüchtlinge in Jordanien. Das seien sehr verschiedene Projekte mit verschiedenen Kulturen gewesen, sagt der niederländische Komponist Merlijn Twaalfhoven. Ziel sei immer, Kontraste zusammen zu bringen, aber nicht zu blenden. Er liebe den Kontrast zwischen Kulturen, aber auch zwischen professioneller Musik und der Musik von Kindern, ein Kontrast nicht nur des Klanges, auch ein Kontrast der Energie, der Atmosphäre, der Erfahrung: „Ziel ist immer, die Verschiedenheit zu feiern, zu lieben.“

Die Bühne bleibt offen

Die Bühne ein Meer von Pulten und Stühlen: Am Sonnabend werden auch im Anhaltischen Theater Dessau Grenzen überschritten, etwa die Rampe, die Bühne und Saal, Musiker und Publikum trennt. Das Philharmonische Musikschulkonzert, die „Sinfonie für jeden“ von Twaalfhoven, führt etwa 40 Orchestermusiker und 300 Schüler der Musikschule „Kurt Weill“ zusammen. Das Konzertzimmer fasst die Zahl der Musiker nicht, die Bühne bleibt offen. Und natürlich können nicht alle Klavierschüler auch Klavier spielen. Zwei der vier Klaviere werden mit Schülern besetzt. Etwa 120 Kinder werden auf mehr oder weniger selbst gebauten Instrumenten musizieren und im Publikum sitzen, wie die Sänger.

Zweimal wurde die „Sinfonie für jeden“ bereits aufgeführt, einmal in den Niederlanden und einmal in einem syrischen Flüchtlingslager in Jordanien. Die Partitur ist längst in Dessau, Einzelproben liefen bereits. Am Dienstag reiste Twaalfhoven an. Die Noten seien nicht das Problem, eher die Struktur, die es nun in wenigen Proben zu finden gilt. Stimmen für Mandoline und Akkordeon wurden eigens hinzugefügt. Und die Blockflöten musizieren mit Tuba und Orchester, mit E-Bass und Schlagwerk. Für das leise Instrument gebe es leise Momente. Und immer wieder spricht Twaalfhoven von Kontrasten, von Genauigkeit und Freiheit, jung und alt, Momenten der Ordnung und des Chaos, Melodien und Geräuschen.

„Die Musik soll ein Abenteuer werden“, sagt er, ein Abenteuer, welches inspiriere, weiter zu machen, nicht zu denken, dass Musik eingeschränkt sei. „Wenn ich die Geräusche des Meeres erfahre als Musik, dann ist das Musik. Ich entscheide mich selbst.“ Das Experiment mit dem Klang könne helfen, auch die Schönheit des Alltags wahrzunehmen. „Ich glaube, dass der Alltag sehr viel Schönheit hat, aber wir vergessen, das anzuhören, das anzusehen.“

An die Grenze gegangen ist Twaalfhoven auf Zypern, mit „Long dictance call“. Türkisch hier, griechisch da, die Menschen blieben getrennt, die Musik vereinte sich. Twaalfhoven spricht von einer „Feier der Humanität“. Ähnliches hatte er an der Mauer in Israel geplant, aber diesseits und jenseits der Mauer wohnen Palästinenser oder jüdische Siedler, mit denen dieses Konzert nicht zu haben war. Twaalfhoven wollte nicht gegen die Wirklichkeit arbeiten und vor allem kein Statement von außen platzieren. Er habe die Palästinenser gefragt, was sie sagen, was sie ausdrücken wollten. Die Antwort: Sie wollen gehört werden, wahrgenommen werden als Menschen mit Musik und Träumen, jenseits extremistischer Gewaltmeldungen.

Posaunen habe er gesucht und gefunden

Posaunen habe er gesucht und gefunden. Kinder hätten aus Abfall Instrumente gebaut. „Die Kinder“, so Twaalfhoven, „lernen im Alltag: Die Mauer ist stärker. Und im Projekt: Deine Stimme kann die Mauer übersteigen, deine Gedanken können sie überfliegen. Die Mauer ist nur blöder Beton. Sie lernen Freiheit zu erfahren in Musik und Fantasie, wenn Freiheit physisch nicht möglich ist.“ Wichtig sei, so Twaalfhoven, immer die Beziehung zwischen den Menschen, zwischen alten und jungen Musikern, zwischen Musikern und Publikum, sowie die Kontraste Genauigkeit und Freiheit, Perfektion und Spontaneität, Melodie und Geräusch. Twaalfhoven hofft, dass Musiker und Publikum ihm danach erzählen, was sie erfahren, gedacht, gefühlt haben. Die „Sinfonie für jeden“ solle ein Abenteuer werden für jeden, „eine Leiter in den Raum stellen.“